Zum Inhalt springen →

Leben

Ich war in Auschwitz. Mir war zwar klar, dass der Tag mental anstrengend wird, aber dann war ich mental doch recht überfordert.

„Arbeit macht frei“ steht über dem Tor, zwischen einer Doppelreihe Stacheldrahtzaun. Damit auch wirklich keiner raus kam, wurde dieses Bollwerk noch unter Strom gesetzt.

Als ich vor diesem Tor stehe, habe ich bereits einen Tunnel hinter mir, in dem Namen vorgelesen wurden. Namen von Opfern. Opfern einer unmenschlichen Tötungsmaschinerie.

„Arbeit macht frei“ – welch ein zynischer, menschenverachtender Satz, wenn man weiß, was hinter all dem Stacheldraht geschah.

Trügerische Idylle

Rote Klinkerbauten stehen an schmalen Straßen, die teilweise gesäumt sind von hohen Bäumen. Man könnte diese Ansammlung von Häusern fast hübsch nennen, wären da nicht die Details: Innenhöfe, in denen Menschen erschossen wurden. Keller, in denen Menschen nach einem Tag harter Arbeit stehend die Nacht verbringen mussten – zu viert auf vielleicht einem Quadratmeter – nachdem sie durch eine niedrige Luke in ihr Gefängnis kriechen mussten. Straßen, auf denen LKWs mit laufendem Motor stehen mussten, um das Geschrei von hunderten Menschen zu übertönen, die gerade in einer der ersten Gaskammern starben.

„Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden?“ schießt mir eine Liedzeile von PUR durch den Kopf, während mir all die Grausamkeit mit voller Wucht entgegenschlägt. Dieses Lied lässt mich den Rest des Tages nicht mehr los.

Wie nur konntest du das tun?
Hast du nichts dabei gefühlt?
Was nahm dir all die Skrupel, all die Scham?
Du hast gewissenlos gehorcht,
Mord befohlen, ausgeführt.
Das Gas war leise, nur die Schreie laut.

Ich stehe in einer der Baracken vor Bildern. Stumm sehen mich unzählige Gesichter an: Männer, Frauen, Kinder. Bilder von Menschen, die das Grauen in Auschwitz erleben mussten und dabei umkamen. Menschen, die vorher ein Leben hatten, Hoffnungen, Zukunftsträume.

Bilder machen fassungslos:
Gruben voller Leichen,
voller nicht erfüllter Hoffnungen.
Du hast als Richter, Henker,
ihre Zukunft geraubt.
Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden?
Das höchste Gut mit Füßen treten?

Menschen, die das Verbrechen begangen hatten, zu existieren. Deren Wille gebrochen wurde, deren Kraft bis auf den letzten Tropfen aus ihnen herausgewrungen wurde und die dann getötet wurden, weil sie als Arbeitskraft wertlos geworden waren.

Überbleibsel von unzähligen Leben

Ich stehe vor einem Berg Schuhe. Stiefel, Sandalen, Halbschuhe. Große Männerschuhe. Etwas kleinere Frauenschuhe. Kleine Kinderschuhe.

Ich stehe vor einem riesigen Haufen Koffer. Große Koffer. Kleine Koffer. Alle stabil und gut erhalten. Und alle beschriftet mit den Namen und Adressen der Besitzer. Koffer, die die Habseligkeiten von unzähligen Menschen transportiert haben und deren Besitzer nie wieder aufgetaucht sind.

Ich stehe vor einem ganzen Raum voller Geschirr. Töpfe, Tassen, Teller. Kochtöpfe, Kannen, Becher. Geschirr, welches Menschen benutzt haben und unerwartet nicht mehr benutzen konnten.

Ich stehe vor einem Berg geöffneter Dosen. „Zyklon B“, ein Schädlingsvernichtungsmittel, war in ihnen enthalten. Geöffnet, um das im Granulat gebundene Gas zum Töten von unschuldigen Menschen zu benutzen.

Ich stehe vor einem Berg Haare. Menschliche Haare, zu Zöpfen gebunden. 40.000 Frauen und Mädchen mussten nur für diesen Berg ihre Haare hergeben – nachdem sie vergast worden waren.

Ich stehe vor einem Berg Prothesen und Korsetts. Hilfsmittel, die Menschen gebraucht haben, um irgendwie durchs Leben zu kommen. Und die getötet wurden, weil sie diese Hilfsmittel hatten. Nicht, weil man die Hilfsmittel haben wollte, sondern weil diese Menschen in den Augen ihrer Mörder nichts wert waren.

Ich stehe in Birkenau auf der Rampe. Dort, wo ein einzelner, kurzer Blick eines Arztes über den sofortigen Tod oder ein Sterben auf Raten entschieden. Dort, wo Familien auseinandergerissen wurden. Dort, wo kleine Kinder bei ihren Müttern bleiben durften, weil das Trennen der Kinder von den an sich noch arbeitsfähigen Frauen für zu viel Unruhe gesorgt hätte und man dann halt einfach alle zusammen ermordete.

Ich stehe an den Gleisen, die schon unzählige Male fotografiert worden sind, die auf das Tor des Vernichtungslagers Birkenau zulaufen. Der Blickwinkel aber täuscht: Es ist nicht der Blick auf den Eingang des Lagers. Nein, man sieht hier quasi den Ausgang, die Rückseite des Eingangs. Wer das so sehen konnte, stand nicht noch vor dem Lager, nein, der war bereits mittendrin.

Dass im Namen einer Politik,
dass im Namen einer Religion,
Menschenverachtung uns in Kriege führt.
Und dass der Wahnsinn triumphiert,
wo ein Leben nur als Opfer dient,
all das blieb uns bis jetzt erspart.

Nie wieder!

Auf die Befreiung des Lagerkomplexes am 27. Januar 1945 folgte die Aufarbeitung. 1,5 Millionen Menschen wurden hier ermordet. Sie wurden vergast, erhängt, erschossen. Sie starben an Entkräftung durch die harte Arbeit, sie verhungerten, weil sie nicht genug oder auch gar kein Essen bekamen. Sie starben bei barbarischen Experimenten.

Dass wir das heute alles wissen, verdanken wir unter anderem den mutigen Menschen, die trotz ihrer Gefangenschaft und im Angesichts des ständigen Todes Beweise sammelten. Die gehofft haben, dass das Grauen irgendwann ein Ende haben muss. Die Fotos, Notizen, Baupläne und vieles mehr erstellten, versteckten und irgendwie nach draußen schmuggelten. Die Leben wollten und deren Überlebenswillen trotz aller Tortur und Todesangst noch nicht völlig gebrochen war.

Wir kennen nur die Bilder.
Das genau ist unsere Chance:
Wenn wir begreifen, wenn wir lernen wollen,
wie du und ich und wir gemeinsam

Leben, mehr als nur zu überleben.
Leben, das ist Ursprung und Ziel.
Leben als kleiner Teil des großen Ganzen
Lebenswert zu sein.

PUR / Hartmut Engler, Ingo Reidl

Ich kannte nur die Bilder. Jetzt habe ich den Schrecken mit eigenen Augen gesehen. Ich stand am Rand der Gaskammern in Birkenau, vor den Ruinen der kurz vor der Befreiung gesprengten Krematorien, vor den Mauern, hinter denen Menschen Tag für Tag Angst hatten. Ja, die Bilder sind schrecklich. Und wer einmal in Auschwitz all das real sehen konnte, der kann (hoffentlich) gar nicht anders, als dafür zu kämpfen, dass so etwas nie wieder geschehen darf.

Gedenktafel am Mahnmal im Vernichtungslager Birkenau.

Veröffentlicht in Steinschlag

Bildquellen

  • Gedenktafel: Sebastian Stein
  • Birkenau: Sebastian Stein

Ein Kommentar

  1. Dörte Dörte

    Ich tippe den Kommentar.
    Lösche ihn wieder. Tippe… lösche!
    Was sind die richtigen Wort?
    Irgendwie stark betroffen von Deinem Bericht, mitgenommen und eingetaucht. Ich ahne was es mit Dir gemacht hat.

    Eine grauenvoll deutsche Vergangenheit, die unumstösslich wach gehalten werden muss, um jegliche Art des Wiederholens zu vermeiden.

    Dieses schwarze Kapitel dt. Geschichte darf nie vergessen werden und sollte dabei helfen unsere Kinder und Kindeskinder zu wachen reflektierten Menschen heranwachsen zu lassen.

    wach – mutig – aufmüpfig – laut

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert