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Hänsel und Gretel

Seien Sie ehrlich, lieber Leser: Wir alle haben doch den gleichen Helden. Denn niemand hatte so ein gutes Leben wie der kleine Hans aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“. Er musste nichts machen und bekam ständig leckeres Essen, während seine Schwester für die olle Hexe ackern musste. Aber wie kam er da eigentlich hin?

Nun, auch das hat mit Essen zu tun. Allerdings nicht mit dem Überfluss im bzw. am Hexenhaus sondern viel mehr mit einem massiven Mangel. Natürlich ist es die naheliegenste Idee, die Kinder im Wald auszusetzen, damit mehr für die Erwachsenen vorhanden ist – dachte zumindest die Stiefmutter. Der Vater hat nichts zu melden und schon sitzen die Kinder irgendwo im tiefsten Märchenwald.

Die eigentlich schlaue Idee, sich den Rückweg mit Steinen oder Brotkrumen zu markieren, scheiterte letztlich aber an der Verfressenheit der Waldbewohner.

Hans und Gretel finden irgendwann ein Haus, welches augenschein- und, nach kurzer Prüfung, ebenfalls geschmacklich aus feinstem Lebkuchen besteht. Jeder, der schon einmal ein Lebkuchenhaus gebastelt hat, weiß, dass diese Dinger gewissen statischen Eigenschaften unterliegen und man niemals ein so großes Haus aus Kuchen bauen könnte, als dass da tatsächlich jemand drin wohnen könnte. Aber die Kinder hatten Hunger und wer denkt da schon groß über die Zusammenhänge von Architektur, Statik und Backwaren nach.

Die Hexe, die ihre Hütte im dunklen, deutschen Wald vermutlich schwarz und ohne die Einbeziehung der Bauaufsicht, der Gesundheitsbehörde (schließlich wird darin für Gäste gekocht, was mindestens ein Gesundheitszeugnis der Köchin erfordert hätte) und der Forstverwaltung errichtet hatte, freute sich so sehr über den Besuch, dass sie die Kinder nötigte, doch ein wenig länger zu bleiben.

Der Rest ist schnell erzählt: Hänsel landet im Gefängnis, seine Schwester muss für ihn und die schwarzbauende Hexe kochen, putzen, Holz hacken und was sonst noch so im Lebkuchenhaushalt so anfällt.

Apropos Holz hacken: Wenn in dem Lebkuchenhaus mit Holz geheizt wurde, ist es eigentlich noch viel verwunderlicher, dass die Hütte länger als ein paar Sekunden stehen blieb. Denn durch das offene Feuer und die damit verbundene Hitze dürfte der Zuckerguss, welchen man gemeinhin als Baukleber bei solchen Knusperhäuschen verwendet, wieder weich geworden sein, was den direkten Einsturz von diversen Bauteilen zur Folge gehabt haben dürfte. Aber ich schweife ab…

Abgelegenheit kann beim Eigenheimbau Fluch und Segen zugleich sein. Die Nähe zur Natur, die Stille, die gute Luft – all das hilft einem nicht, wenn man ernsthafte Probleme hat, für welche man die unterschiedlichsten Fachkräfte konsultieren müsste. Die Hexe hätte, wenn wir den Überlieferungen glauben schenken dürfen, dringend einen Augenarzt und einen Optiker aufsuchen sollen. Denn sie sah so schlecht, dass sie nicht einmal prüfen konnte, ob Hänsel, den sie für ein späteres Festmahl mästen wollte, eigentlich dicker wurde oder nicht.

Nun schien der Anlass des Festmahls näher zu rücken und so sollte die arme Gretel schon einmal das Wasser zum Kochen bringen, in dem dann später ihr Bruder gegart werden sollte. Parallel dazu wollte ihre Gastgeberin ein Brot als Beilage zum Hänsel-Schmaus backen. In Wirklichkeit sollte Gretel im Ofen gebacken werden, was Gretel selbst aber natürlich nicht wissen konnte. Bei der Prüfung, ob der Ofen denn nun die richtige Temperatur hat, stellte sich Gretel so ungeschickt an, dass die Hexe selbst nachschauen musste.

Es dürfte juristisch strittig sein, ob der anschließende „Unfall“, der zum nahen Feuertod der begabten Lebkuchenbäckerin und Kinderköchin führte, nun eigentlich erlaubte Notwehr oder schon eine verbotene Tötung war. Sicher ist, dass Gretel ihren Bruder (und sich selbst) schützen wollte, aber ob das Töten der alten Dame da die angemessene Lösung war oder ob nicht vielleicht auch ein Schlag mit einer Bratpfanne auf den Hinterkopf der (im Teig) rührenden Person die Kinder hätte retten können, müssten Gerichte entscheiden, die aber nicht zuständig wären, weil Kinder nun einmal strafunmündig sind und deshalb maximal die Eltern wegen Verletzung der Aufsichtspflicht dran gewesen wären. Wenn denn überhaupt jemand vom Tod der Einsiedlerin in ihrem schwarz erbauten Einfamilienhaus erfahren hätte.

Und so durchzog vermutlich der liebliche Duft angebrannten Weihnachtsgebäcks den tiefen, friedlichen Märchenwald, welcher dem Wolf in die Nase stieg, der davon so großen Appetit bekam, dass er nur ein paar Lichtungen vom brennenden Lebkuchenhaus entfernt Rotkäppchens Großmutter verspeiste. Wiederum ein paar Waldwege entfernt lenkte der Geruch den Diener eines Prinzen so sehr ab, dass er versehentlich über einen Strauch stolperte und dabei den gläsernen Sarg mit dem am Apfel erstickten Schneewittchen so sehr schüttelte, so dass sie wieder zum Leben erwachte. Aber das sind andere Geschichten, die ein anderes Mal erzählt werden wollen…


Nachdem dieser Text fertig war, suchte ich noch ein passendes Bild. Dabei stieß ich auf das oben verwendete. Wenn man sich vorstellt, wie die Hexe in einem Schaukelstuhl sitzend und an einem Lebkuchenherz mit der Aufschrift „I mog di“ knabbernd Gretel bei irgendwelchen Arbeiten im Haushalt beobachtet, dann weiß ich mal wieder nicht, woher mein Verstand so wirre Ideen nimmt.

Veröffentlicht in Steinschlag

Bildquellen

  • Frau mit Lebkuchenherz: DanielaJakob / Pixabay.com

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